Heinrich Barth

Portrait Heinrich Barth

 

Anknüpfungspunkte

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Inhalt

Heinrich Barths Denken steht zwischen den etablierten philosophischen Schulen und Diskursen. Es lässt sich keiner Richtung ohne entscheidende Verkürzung seiner Aussage zuordnen. Auf diese Zwischenstellung muss wohl die ausbleibende Rezeption zurückgeführt werden. So sah denn auch das um die Propagierung von Barths Denken bemühte Umfeld in dieser Abseitsposition lange Zeit vor allem ein Hindernis. Inzwischen dürfte aber die Zeit dafür gekommen sein, dass man die darin liegende Chance erkennt und fruchtbar macht.

Erscheinung

Barths Erscheinungsbegriff kann in mindestens viererlei Hinsicht zum Anknüpfungspunkt werden (und ist es faktisch geworden): 1) Erscheinung und Phänomenologie – die Assoziation liegt nahe: Ist „Erscheinung“ nicht das Thema der Phänomenologie? Doch es zeigt sich, dass diese ihrem Zentralbegriff „nur wenig theoretische Sorgfalt angedeihen liess. Weder Edmund Husserl noch Martin Heidegger noch irgendein anderer Forscher aus ihrem Umkreis haben je den Versuch unternommen, die Tiefendimensionen des Phänomenbegriffs so gründlich auszuloten, wie es Barth unternahm“ (Jens Soentgen in: Bulletin der Heinrich Barth-Gesellschaft für erscheinungsorientiertes Denken, Nr. 7 / Mai 2002, S. 24f.). Die Heinrich Barth-Gesellschaft hat sich in der Vergangenheit vielleicht etwas zu sehr um den Kontakt mit der Phänomenologie bemüht. Soll „Erscheinung“ für den ganzen Barth stehen können, muss sie aus einem Horizont gedacht werden, der einzelne Forschungsausrichtungen und letztlich auch die akademische Philosophie im ganzen umgreift, jedenfalls sofern dieser eine Tendenz zur Selbsteinschliessung eignet. Nicht zuletzt aufgrund dieser Einsicht hat die Gesellschaft letzthin den Zusatz „für erscheinungsorientiertes Denken“ in ihrem Titel gestrichen. Das Gespräch mit der Phänomenologie ist jedoch, vor allem sofern Husserl auch für sie nicht das Mass aller Dinge bleibt, keineswegs unfruchtbar. Es hat gerade Anfang April durch ein Kolloquium in Prag, an dem die Philosophie Barths derjenigen von Eugen Fink und Jan Patocka gegenübergestellt wurde, einen neuen Anstoss erhalten. Doch es darf darin nicht mehr als ein Teil des umfassenderen Gesprächs gesehen werden, das man von Barth aus mit einer ganzen Reihe von Positionen der heutigen Philosophie zu führen in der Lage ist. – 2) Erscheinung und sinnliche Erkenntnis: Barths Thematisierung der Erscheinung lässt sich im Zeichen einer Bewegung der Rehabilitation der sinnlichen Erkenntnis gegenüber der dominierenden, diese geringschätzenden Erkenntnisphilosophie der Neuzeit verstehen und auf Namen wie Baumgarten, Troxler, Goethe, Fiedler, Croce u.a. beziehen. Für diesen Zugang zu Barth stand der inzwischen verstorbene Hans Rudolf Schweizer. Er hat Texte von Baumgarten und Troxler sowohl übersetzt, herausgegeben und interpretiert, wie in einen Bezug zu Barths Philosophie gebracht (vgl. zu Hans Rudolf Schweizer: Bulletin der Heinrich Barth-Gesellschaft für erscheinungsorientiertes Denken Nr. 6 / Dez. 2001 und Nr. 8 / Jan. 2003). – 3) Erscheinungsorientiertes Denken und Handeln: Barths Betonung der existentiellen Dimension der Erscheinung vermag einem Interesse zu entsprechen, das über eine bestimmte Ausprägung philosophischen Denkens hinaus auf so etwas wie eine Lebensform geht. Von diesem Interesse aus ergeben sich wieder neue Anknüpfungspunkte für das Denken: Ökologisches Bewusstsein, Besinnung auf das Organische, die biologischen Forschungen Adolf Portmanns (vgl. dazu: Bulletin Nr. 6 / Dez. 2001, v. a. S. 28ff.). – Es liegt nahe, im Zusammenhang mit 2) und 3) auch die Anthroposophie Rudolf Steiners zu erwähnen, zumal einige der Mitglieder der Barth-Gesellschaft von dieser Seite her Anregungen empfangen haben. Ein erster Versuch, Barth und Steiner einander gegenüber zu stellen, hat im Bulletin Nr. 4 / Nov. 2000 seinen Niederschlag gefunden (vgl. darin v. a. den sehr perspektivenreichen Essay von Armin Wildermuth). Es scheint aber eine grosse, vorläufig zu grosse Aufgabe zu bedeuten, beide Denker auf einem Niveau ins Gespräch treten zu lassen, das dem philosophischen Anspruch hier und dort entspricht. Ein vorschnelles Bejahen von Analogien fällt zu Lasten Barths, indem die Gemeinsamkeit dann etwa in einer erscheinungsoffenen Lebenshaltung gesehen wird, auf deren Propagierung Barth nur auf Kosten alles spezifisch philosophischen Gehalts reduziert werden kann. Umgekehrt wird man Steiner nicht gerecht, wenn man ebenso vorschnell jede Möglichkeit tieferer Übereinstimmung bestreitet. Steiner hat im Unterschied zu Barth eine Bewegung ins Leben gerufen hat, und da diese oftmals weit davon entfernt ist, das Denkniveau ihres Begründers zu erreichen, droht ihm auch eine Weise des Verkanntwerdens, an der gerade seine Anhänger ihren Anteil haben. Auch Steiner ist als Philosoph ernst zu nehmen. Heinrich Barth tat dies, selbst wenn ihm bei der Herausbildung des Selbstverständnisses seiner Philosophie vornehmlich andere Gesprächspartner wichtig waren. – Stefan Brotbeck hat aus einem weiten philosophischen Horizont heraus zentrale Motive und Anliegen Rudolf Steiners aufgenommen und in eine Denkbewegung integriert, die sich nun offenkundig in vielfacher Hinsicht mit derjenigen Barths berührt. Das sich hier abzeichnende Gespräch steht erst am Anfang, dürfte aber von immenser Fruchtbarkeit sein. – 4) „Das Leben ist erschienen“: Barths Erscheinungsbegriff kommt schliesslich einem theologischen oder allgemein christlichen Interesse entgegen. Barth hat sich nie gescheut, den christlichen Hintergrund seines philosophischen Zentralbegriffes (v. a. das Johannesevangelium) namhaft zu machen (vgl. H. Barth, „Die Philosophie der Erscheinung und der christliche Glaube“, in: ders., Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik, hrsg. v. G. Hauff, Basel 1967, S. 160-174). Er legte auch ausführliche Reflexionen über die Hermeneutik des Neuen Testaments sowie einige eigene exegetische Arbeiten vor (vgl. Existenzphilosophie, a. a. O, S. 238-361). – Diese Offenheit des Philosophen für die christliche Offenbarung ist als notwendige Konsequenz aus Barths kritischem, streng philosophisch entwickeltem Erkenntnisbegriff zu verstehen. Diesen Gedanken nachzuvollziehen, ist für den heutigen Philosophen eine Herausforderung und damit wiederum für diesen ein weiterer möglicher Anknüpfungspunkt an Barth.

Existenz

Barth nennt seine Philosophie eine Existenzphilosophie. Im Jahr 1927, im selben Jahr wie Heideggers Sein und Zeit, erschien Barths Philosophie der praktischen Vernunft, die zwar den Begriff „Existenz“ noch nicht ins Zentrum stellte, der Sache nach jedoch bereits die erst später ausdrücklich so genannte Existenzphilosophie antizipierte. Das grosse systematische Hauptwerk Barths, Erkenntnis der Existenz, konnte erst kurz nach seinem Tod im Jahr 1965 publiziert werden, zu einer Zeit also, in der das Interesse an Existenzphilosophie weitgehend erloschen war. Doch auch hier kann es nicht in erster Linie darum gehen, nachträglich Barths Aufnahme in den Kreis der grossen Existenzdenker zu erwirken. Viel fruchtbarer ist es, die Auseinandersetzung mit Heidegger, Sartre und Jaspers fortzuführen, die schon die Herausbildung der barthschen Position mitbestimmte. Diese Namen sind ja, in verschiedenem Masse, auch in der heutigen Diskussion präsent, ganz ebenso wie viele der grundlegenden existenzphilosophischen Motive, diese allerdings meist unter anderer Etikette. Barths „Philosophie der Existenz“ ist kein „Existentialismus“, der doch manche Züge einer Modeströmung aufwies und der deshalb mit mehr Recht historisiert werden darf (vgl. Armin Wildermuth, in: Bulletin Nr. 5 / Mai 2001, S. 5). Entwickelt im lebendigen Gespräch mit der ganzen philosophischen Tradition ist Barths Philosophie unabhängiger geblieben gegenüber dieser bestimmten Geisteshaltung und Atmosphäre, die sich mit dem Existentialismus verbunden hat. Und obwohl Barth auf der einen Seite gegenüber Heideggers Immanenzdenken die Transzendenzbeziehung der Existenz einklagt und sich auch dem Glauben gegenüber offen hält, so besteht er andererseits gegenüber Jaspers (und nicht weniger gegenüber Heideggers Wendung ins Mystische) auf einem betont kritischen Denken.

Erkenntnis

Dieser Anknüpfungspunkt erinnert an die Herkunft Barths aus dem Marburger Neukantianismus, der gemeinhein mit Erkenntnistheorie identifiziert wird. Erst im Zuge der dem Neukantianismus geltenden Rehabilitationsbewegung der letzten Zeit erkannte man da und dort, dass die Entscheidung, alle Philosophie auf Erkenntnis zu gründen, ihr tiefes Recht hat und nicht im Sinne einer „Einschränkung“ auf ein bestimmtes Gebiet missverstanden werden darf. Leider wurde die neuerwachte Neukantianismusforschung selbst dort, wo sie sich für eigenständige Weiterentwicklungen interessierte, bis vor kurzem nicht auf Barth aufmerksam, obwohl dieser wie kein anderer es verstand, die gnoseologische Grundorientierung in ihrer ganzen Weite und Glaubwürdigkeit zu vertreten und den gegenüber seinen Lehren Hermann Cohen und Paul Natorp nicht völlig unbegründeten Verdacht zu zerstreuen, dass es letztlich um eine wissenschaftsbegründende, mehr noch –rechtfertigende Theorie der Erkenntnis gehe. Mit Harald Schwaetzer und jüngst auch Kirstin Zeyer traten nun aber aus der Neukantianismusforschung zwei Forscherpersönlichkeiten hervor, die ein lebhaftes Interesse an Barths Denken nehmen und sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie nicht mit ein für allemal fixierten Begriffen, auch nicht denen einer etablierten neukantianischen Position, an Barths Texte herangehen, sondern offen sind für den dort ausgebreiteten Denkzusammenhang, aus dem heraus die einzelnen Grundbegriffe erst ihre Bedeutung empfangen. Von verschiedener Seite beginnt sich abzuzeichnen, dass das Stichwort „Erkenntnis“ zu dem Anknüpfungspunkt schlechthin für eine fruchtbare Beschäftigung mit Barth werden könnte. Zu dieser Einschätzung trägt die erst kürzlich im Nachlass aufgefundene Vorlesung Das Erkenntnisproblem (Nachlass UB Basel, A 22) nicht unwesentlich bei. In einer unerhört radikalen Weise lässt Barth sich dort auf dieses Problem aller Probleme ein. Angesichts solcher Radikalität der Fragestellung treten jene Punkte hervor, wo die heutigen Positionen der Erkenntnistheorie es sich eindeutig zu leicht machen und ein wirklich kritisches Bewusstsein vermissen lassen. In der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit weniger von Erkenntnis als von Erkenntnistheorie kommt Barth zum Schluss, dass die Affirmation einer solchen Theorie eben gerade ein Herausreflektieren aus dem Erkenntnisproblem bedeutet und somit als unkritisch abzulehnen ist. Vielmehr führt ein Ernstnehmen der Problematik zu einer Erkenntnisphilosophie, für die Erkenntnis das Allernächste, deshalb aber auch endgültig Nichtobjektivierbare ist (vgl. dazu Armin Wildermuth, „Erkundungen im Allernächsten“, in: Bulletin Nr. 10, Dez. 2003, S. 21-37; was Wildermuth hier noch ohne Kenntnis des erwähnten Vorlesungsmanuskripts ausführt, liesse sich durch dieses weiter stützen und präzisieren). Philosophie macht von jeher auf das Allernächste, scheinbar Selbstverständliche und deshalb meist Übersehene aufmerksam. Und solche Ausrichtung ist auch in gegenwärtigem Denken sehr aktuell, indem für ein „nachmetaphysisches“ Denken die einzig akzeptable Form einer Erforschung von Tiefenschichten der Erfahrung dann gegeben ist, wenn diese Tiefe in einem Diesseits, nicht einem Jenseits der Erfahrung gesucht wird, wie fragwürdig diese Unterscheidung immer sein mag. Dass nun aber an die Stelle einer dunkeln, unbewussten oder präreflexiven, lebensweltlichen Schicht die Erkenntnis als solche treten soll, gibt dem Gedanken eine irritierende Wendung.

Kritik

Sowohl Heinrich Barth wie manche gegenwärtige Philosophie nehmen für sich in Anspruch, ein kritisches Denken zu pflegen. Doch was heisst das eigentlich? Hinter Barths Kritikbegriff steht nicht nur das Kantische Unternehmen von Vernunftkritik; er wird bei ihm auch (in fast heideggersch anmutender Weise) auf seine etymologischen Wurzeln hin transparent gemacht. Insbesondere „Kritik“, „Krisis“ und die transzendentale Begründung bilden für Barth einen unlöslichen Zusammenhang, der noch kaum erforscht ist (vgl. » Forschung/Forschungsprojekt). Eine Konfrontation mit heutigen Berufungen auf „Kritik“ verspricht interessante Resultate. Fruchtbar dürfte vor allem der Bezug zu heutigen Spielarten der Metaphysikkritik und der Rationalitätskritik sein. Barths neukantianisch inspirierte und darüber hinaus radikalisierte Engführung von Ursprung und Krisis lässt vieldiskutierte Fragen mit einem Mal in einem anderen Licht erscheinen.

Hermeneutik und Geschichtlichkeit

Jens Soentgen spricht davon (Bulletin Nr. 7 / Mai 2002, S. 25), dass die Phänomenologie in Barths Werk erst zu sich selbst komme. Analoges liesse sich von der hermeneutischen Philosophie behaupten. Die Verschränkung von historischem und systematischem Ansatz ist etwas, was Barth ihr gegenüber noch konsequenter praktiziert und obwohl er keine gleichwertige Theoretisierung etwa des hermeneutischen Zirkels anbietet, verschafft er dieser Verschränkung letztlich auch eine tragfähigere, kritikresistentere Basis. Auch hier ist allerdings noch grosser Forschungsbedarf: Ausser den allerdings einen geradezu genialen Tiefblick in diese Zusammenhänge offenbarenden Ausführungen von J. J. Schaaf anlässlich seiner Würdigung von Barths Philosophie der Erscheinung (in: Philosophische Rundschau, Mai 1963; s. » Forschung/Sekundärliteratur) liegt in diesem Bereich noch kaum etwas vor. So viel aber kann gesagt werden, dass Barth der geschichtlichen Situation des Einzelnen besser gerecht wird, insofern er weit davon entfernt ist, sie in den umgreifenden Horizont eines „Sinngeschehens“ einzubetten und aufzuheben.